Rheinhessen, von der Liebfrauenmilch zum Grand Cru
Nirgendwo sonst kann man die Revolution im deutschen Qualitätsweinbau so klar und unverfälscht verfolgen wie in Deutschlands grösstem Anbaugebiet Rheinhessen. Einst berühmt für Wein vor allem vom Niersteiner Roten Hang, wurde Rheinhessen zum Fassweinmekka und in den 1970er bis 1990er Jahren vor allem mit der Liebfrauenmilch in Verbindung gebracht. Dieser restsüsse und aus allen möglichen einfachen und ertragreichen Sorten verschnittene Wein war in diesen Jahren das Markenzeichen für deutschen Wein im Ausland.
Dass sich das nachhaltig geändert hat, ist das Verdienst einiger damals noch sehr junger Winzer wie Philipp Wittmann, Daniel Wagner und nicht zuletzt Hans Oliver Spanier und Carolin Spanier-Gillot sowie einiger anderer, die Ende der 1990er die Gruppe Message in an Bottle gegründet haben. Diese Winzer haben den Weinbau in Rheinhessen grundlegend verändert; denn sie haben auf Qualität statt auf Quantität gesetzt, sie haben ihre Weine selber gefüllt, statt sie als Fassware zu verkaufen, und sie haben damit begonnen, sich auszutauschen, sich gegenseitig zu kritisieren, sich zu beraten und gemeinsam ihre Weine zu präsentieren. Mittlerweile gehören die wichtigsten Protagonisten dieser Zeit zu den besten Winzern Deutschlands und – sie arbeiten fast alle ökologisch. Längst folgt ihnen eine weitere, nicht minder begabte und energiegeladene Generation, die das Anbauland noch weiter in Richtung Qualitätsspitze treiben wird.
Geschichte
Schon die Römer haben das besondere Potential der Rheinfront bei Nierstein erkannt, die auch nach der römischen Zeit weiter bewirtschaftet wurde. 742 wird die Niersteiner Glöck als erste Weinbergslage überhaupt erwähnt. Sie war Teil einer Schenkung, die Karlmann, der älteste Sohn Karl Martells, dem Bistum Würzburg übereignete. Karlmann war der Onkel von Karl dem Grossen, dem späteren Kaiser, der sich um den rheinhessischen Weinbau ähnlich verdient machte wie die Klöster, die im Mittelalter den Weinbau in Deutschland beherrschten. Schnell wurde die Region Rheinhessen wegen der idealen Bedingungen mit ihren sanft geschwungenen Hügeln und dem sehr guten Klima zur Weinkelter Europas.
In Rheinhessen wird erstmals die Rebsorte Riesling erwähnt. 1402 erscheint der Rüssling in einer Wormser Urkunde. Und auch der weinhistorisch wichtige Pfarrer, Lehrer und Botaniker Hieronymus Bock (1498–1554) erwähnte die Sorte als den «in Wormbs wachsenden Rissling». In Worms findet man auch das Liebfrauenstück, jenen Weinberg an der Wormser Liebfrauenkirche, aus dem seit dem 19. Jahrhundert die Liebfrauenmilch gekeltert wurde. Dieser Wein gehörte lange zu den besten und teuersten Weinen Deutschlands. Als man in den 1970ern die Einzellage zu einer Grosslage erweiterte, verkam der Name wie auch das Niveau des rheinhessischen Weins. Dieser Wein, der in Millionen und Abermillionen Litern abgefüllt wurde, wurde zum unrühmlichen Repräsentanten deutschen Weinbaus. Doch diese Zeiten sind vorbei. Heute wachsen national und international begehrte Weine im Westhofener Morstein, dem Hohen-Sülzener Kirchenstück und Orten wie Nierstein, Bingen oder Mölsheim.
Berühmte Lagen und Weinorte im Wonnegau
Alzey: | Rotenfels, Mandelberg |
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Dalsheim: | Bürgel, Hubacker |
Flörsheim-Dalsheim: | Bürgel, Frauenberg, Hubacker |
Mölsheim: | Zellerweg am Schwarzen Herrgott |
Westhofen: | Aulerde, Brunnenhäuschen, Kirchspiel, Morstein |
Worms: | Liebfrauenstift-Kirchenstück |
Geografie, Klima, Böden und Rebsorten
Das Anbaugebiet Rheinhessen hat rund 26'500 Hektar mit den Bereichen Bingen, Nierstein und Wonnegau und deren insgesamt 24 Gross- und 434 Einzellagen. Das grösste Anbaugebiet Deutschlands erstreckt sich als grosses Dreieck zwischen Bingen, Mainz und Worms entlang des linken Rheinufers am nördlichen Oberrhein. Weil die Region von einer Unzahl sanfter Hügel geprägt ist, nennt man Rheinhessen auch das Land der 1'000 Hügel. Die Region profitiert von optimalen klimatischen Bedingungen. Rheinhessen gehört zwar zu den trockensten Gebieten Mitteleuropas, aber normalerweise ist trotzdem genügend Wasser vorhanden. Dazu tragen auch die Mergel- und Tonböden bei, die gute Wasserspeicher sind. Mit 1'600 Sonnenstunden im Durchschnitt ist es zudem warm. Hunsrück, Taunus, Odenwald und das Nordpfälzer Bergland bieten Schutz vor Kälte und zu viel Niederschlag.
Eine Vielzahl an unterschiedlichsten Rebsorten profitiert sowohl vom exzellenten Klima als auch von ganz verschiedenen Bodenformationen. Dazu gehört das Rotliegende am Niersteiner Roten Hang und auch in Alzey, ferner Quarzit und Porphyr an den Grenzen zur Nahe, Braunerde, Löss und Sand sowie Kalkstein, Mergel und Ton.
Im Rebsortenspiegel Rheinhessens fällt auf, dass der Anteil der Rotweinsorten wie auch in der Pfalz deutlich gestiegen ist. Dabei ist der Dornfelder der grosse Gewinner, aber auch der Spätburgunder und Bordelaiser Rebsorten wie Merlot und Cabernet findet man immer häufiger. Die Rangliste führt aber weiterhin der Müller-Thurgau an, wenn auch mit deutlich fallender Tendenz, und zwar vor dem Riesling, bei dem die Tendenz ansteigend ist. Unter den häufigsten zehn Sorten in Rheinhessen findet sich sehr stark Grüner Silvaner, ferner Kerner, Grauburgunder, Weissburgunder und die Scheurebe, die von Justus Georg Scheu 1916 in der Landesanstalt für Rebzüchtung in Alzey gezüchtet wurde.
Berühmte Lagen und Weinorte im Bereich Nierstein
Nierstein: | Brudersberg, Glöck, Hipping, Hölle, Ölberg, Orbel, Paterberg, Pettenthal |
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Oppenheim: | Kreuz, Sackträger, Herrenberg |
Weinbau
Der nordwestliche Teil Rheinhessens ist der Bereich Bingen, wo sich Rheingau, Nahe und Rheinhessen treffen. Während die besten Lagen von Quarzit bestimmt sind, zieht sich längs des benachbarten Appenheim ein Kalksteinrücken entlang, wo einige der kalkreichsten Lagen Deutschlands zu finden sind. In Neu-Bamberg, Fürfeld und Siefersheim ähnelt der Boden den Weinlagen der benachbarten Nahe. Man findet dort vulkanischen Porphyr und Melaphyr.
Im Bereich Nierstein, der im Nordosten liegt, wurde mit der Glöck im 8. Jahrhundert der erste Weinberg namentlich erwähnt. In diesem Bereich, der Rheinfront genannt wird, findet man den Niersteiner Roten Hang mit seinem markanten Gestein: Es ist das Rotliegend, eine mit Eisenstein durchsetzte Form des Schieferverwitterungsbodens. In der Steillage am Roten Hang entstehen einige der besten Rieslinge Deutschlands.
Völlig anders zeigt sich der Wonnegau, der gegenüber dem Bereich Nierstein eher unauffällig wirkt. Doch die Kombination aus Kalk, Ton, Löss und Lehm führt zu einer exzellenten Grundlage für grosse Rieslinge und Spätburgunder. Weine aus Westhofen und Flörsheim-Dalsheim gehören mit zu den teuersten Weinen Deutschlands. Dass sich innerhalb der ambitionierten Gruppe eine überdurchschnittlich grosse Zahl von biologisch arbeitenden Winzerinnen und Winzern etabliert hat, zu denen auch Winzer gehören, die nach der Delinat-Methode arbeiten, ist dabei ein grosses Glück.
Berühmte Lagen und Weinorte im Bereich Bingen
Appenheim: | Hundertgulden |
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Bingen: | Kirchberg, Rosengarten, Scharlachberg |
Ingelheim: | Pares |
Siefersheim: | Heerkretz, Höllberg |