Nach 800 Velokilometern in den Beinen sehnt man sich nach ein paar geruhsamen Tagen. Doch nichts da: Nach der zwölftägigen Tour auf meist verkehrsarmen Nebenstrassen blieb mir nach der Ankunft am südfranzösischen Zielort Fontcouverte bloss der Sonntag als Ruhetag. Bereits am Montag gings zu früher Stunde mit Eimer und Schere ab in die steinigen Weinberge von Château la Baronne. Die Familie Lignères erzeugt hier für Delinat aus regionstypischen Trauben so hervorragende Rotweine wie Montagne de l’Aigle, Roches d’Aric und La Colle.
La Colle: Die spanischen Erntehelfer/innen reisen seit über 15 Jahren jeweils Mitte September mit dem Bus aus Andalusien an.
Erntehelfer aus Andalusien
Letzterer ist der spanischen Erntetruppe gewidmet, die innerhalb von 4 Wochen sämtliche Trauben auf dem 80 Hektar grossen Weingut von Hand erntet. Ab sofort bin ich für 10 Tage Mitglied von «La Colle», wie die Erntetruppe hier genannt wird. Diese ist bunt gemischt: Frauen, Männer, Jung und Alt. Die meisten stammen aus Bauernfamilien, die zu Hause in Andalusien von Olivenkulturen leben. Die Ernteeinsätze in Südfrankreich sind nicht nur ein willkommener Zusatzverdienst für die einfachen Bauersleute, bei einigen haben sie das Leben entscheidend beeinflusst. «In den über 15 Jahren, die wir mit dieser Truppe zusammenarbeiten, sind unter den Erntehelfern viele Freundschaften entstanden, aus denen sogar 5 Hochzeiten hervorgingen», erzählt mir Winzer Jean Lingnères, der hauptberuflich als Dorfarzt im kleinen Ort Moux tätig ist.
Viele Weinberge bestehen aus niedrigen Buschreben und verlangen eine stark gebückte Haltung beim Ernten – links der Autor.
Ausgelassene Stimmung trotz harter Arbeit
Im Weinberg herrscht trotz harter Knochenarbeit stets eine fröhliche und ausgelassene Stimmung. Die Jungen singen zur Musik ab dem MP3-Player munter vor sich hin und sind stets für ein Spässchen zu haben, die Älteren sind gesprächig und erzählen von Einsätzen in früheren Jahren oder von ihrem Leben zu Hause. Fast den ganzen Tag mit im Weinberg dabei ist Winzerin Anne Lignères. Wenns mal ein kleines Problem gibt, löst es die fröhliche Anne im Nu. Ansonsten ist sie fast ständig per Handy mit ihrem Mann Jean verbunden, damit die Koordination zwischen Weinberg und Keller klappt.
La Colle im Weinberg – neben der harten Arbeit immer für ein Spässchen zu haben.
Abstecher in den Keller
Nach 8 Stunden Handernte am Fusse des Montagne d’Aric schmerzt mein Rücken, ich strecke und dehne mich und bin froh, die ersten Stunden des nächsten Tages im Keller zu verbringen. Ich helfe französischen und portugiesischen Mitarbeitern bei der Traubenannahme und der Triage. Mehrmals werden die Trauben von Hand verlesen, damit keine Fremdkörper wie Blätter, Grashalme oder Schneckenhäuschen ins Fass gelangen. Neben Jean haben im Keller zwei junge italienische Önologen das Sagen. Sie führen mich in einwandfreiem Französisch in die Geheimnisse der Maischegärung ein.
Der Autor (links) bei der Triage, der aufwändigen Selektion der Trauben auf dem Förderband.
Etwa 10 Prozent der Ernte wird bei den Gebrüdern Lignères zu Vin naturel verarbeitet. Das bedeutet: Kein Schwefelzusatz und keine technischen Hilfsmittel wie Pumpen oder Pressen. Die ersten Schichten der mitsamt Stielen in grosse Holzfässer gefüllten Trauben werden mit nackten Füssen getreten. Die vielen Fahrrad-Kilometer kommen mir hier zu Gute – ich stampfe ohne grössere Konditionsschwächen rund 20 Minuten auf den frisch geernteten Trauben herum. Am Nachmittag gehts mit der Erntetruppe wieder hinaus in die Weinberge. Nach 10 strengen, aber hoch interessanten Tagen und vielen herzlichen Begegnungen mit Menschen aus halb Europa geht meine Reise per Zug zurück in die Schweiz. «La Colle» macht noch knapp drei Wochen weiter, bis dann Mitte Oktober die letzten Trauben im Keller sind.
PS: Ach ja, da waren ja auch noch zwei überraschende Begegnungen mit Delinat-Kunden. Ein Ehepaar aus Süddeutschland steuerte das Weingut aufgrund unserer Reportage in der WeinLese 26 (PDF) mit dem Fahrrad an und freute sich, hier ausgerechnet auf den Autor der Reportage zu stossen. Und ein Schweizer Ehepaar aus dem Kanton Bern wollte unbedingt den Weinberg sehen, dessen Boden mit faustgrossen Steinen übersät ist. «Das sieht ja tatsächlich wie eine Geröllhalde aus – erstaunlich, dass hier überhaupt Reben wachsen», so ihr Kommentar.