Die neue Art zu leben

Corona hat viel verändert. Einige backen jetzt ihr Brot selber, andere gärtnern auf Terrassen und Balkonen oder verbringen den Urlaub im eigenen Land. Was davon wird bleiben und in den Alltag übernommen?

Seit Corona haben viele von uns das Plus an Zeit genutzt, sich mit sich selbst zu beschäftigen, Neues auszuprobieren und Dinge zu tun, die bisher zu kurz gekommen waren. Diesem Trend treu zu bleiben, lohnt sich. Aus der Gesundheitsforschung wissen wir: Gute Chancen für ein erfülltes Leben bis ins Alter hat, wer sich regelmässig bewegt und mit Freude den Alltag bestreitet. Bewegen umfasst hier körperliches Tun und geistige Herausforderung. Als Weinliebhaber und begeisterter Koch habe ich das auf meine Weise umgesetzt.

Gute Chancen für ein erfülltes Leben bis ins Alter hat, wer sich regelmässig bewegt und mit Freude den Alltag bestreitet.

Sich bewegen

Sitzen sei das neue Rauchen, lese ich. Also mache ich mich auf die Socken. Im Herbst zieht es mich in Weinregionen. Sie befinden sich meist in reizvoller Landschaft. Ich entdecke verschiedene Traubensorten und unterschiedliche Erziehungssysteme, also die Art, Reben festzubinden. In den letzten Jahren wurde es in den Reben auffallend grün. Auch Nicht-Biowinzer lassen Gras wachsen, damit die Erde bei Regen nicht weggespült wird. Weit nachhaltiger wäre aber eine vielfältige Begrünung.

Begeistert bin ich von Ausgleichsflächen in Rebbergen. Ein Zeichen, dass der Winzer oder die Winzerin erkannt hat, dass Pflanzenvielfalt bereichernd wirkt und der Verzicht auf ein paar Reben sich lohnt. Ich sehe Feigenbäume, Kräuterzeilen, Weissdornhecken.

Das Hirn beschäftigen

Bei diesen Rebwanderungen erfahre ich in der Praxis, was ich zuvor in Fachbüchern über Rebbau gelesen habe. Damit sind wir bei der zweiten Art, sich zu bewegen; das Gehirn herausfordern. Statt Sudokus zu lösen, was das Gehirn nur kurzzeitig anregt, lese ich gerne Fachbücher. Schon der englische Dichter Joseph Addison (1672–1719) wusste: «Lesen ist für den Geist das, was Gymnastik für den Körper ist.»

Wein gehört zu meinen Leidenschaften. Er erzählt mir mehr, je mehr ich über ihn weiss. Das steigert den Genuss. Gleiches gilt natürlich für jedes Steckenpferd: tun und lesen. Joggen und sich informieren, wie man seinen Körper schonend optimal bewegt; klettern und Fachbücher darüber lesen. Und ganz wichtig: Es muss Spass machen. Darauf verweisen Neurologen, wenn sie Bewegung als Stimulans fürs Gehirn empfehlen.

Den Alltag geniessen

Kochen macht glücklich

Seit Corona haben wir plötzlich mehr Zeit. Beispielsweise fürs Kochen. So entschloss ich mich, Brot und Pasta nicht mehr fertig zu kaufen. Selbst gebackenes Brot ist unvergleichlich: Ich kann die Zutaten frei wählen: Roggen- oder Dinkelmehl, Buttermilch, Koriander- oder Anissamen, Sauerteig oder Hefe? Anfänglicher Misserfolg darf nicht entmutigen – durchhalten lohnt sich, ich habe ja jetzt mehr Zeit.

Ähnlich wie beim Brot ist die Vielfalt bei Pasta unbegrenzt. Verschiedene Mehle für Nudeln, fantasievolle Füllungen für Ravioli, Tortellini und Co. Anerkennung bei Familie und Freunden ist garantiert.

Auch kochen und lesen ergänzen sich bestens. Hilfreich für Pasta ist das Geschichten- und Kochbuch von Claudio Del Principe «a mano» (AT-Verlag). Begeistert war ich auch von den zwei saisonbezogenen Gemüsebüchern von Meret Bissegger: «Meine Gemüseküche» (AT-Verlag). Bücher nicht nur mit Rezepten, sondern mit viel Hintergrundwissen.

Neue Weine entdecken

Wir alle haben unsere Lieblingsweine, sollten aber neugierig bleiben für Neues: Warum nicht mal ein Glas Wein von einer neuen, robusten Rebsorte probieren? Sie machen den Einsatz von Kupfer als problematischem Fungizid im biologischen Rebbau überflüssig. Grossartige Vorbilder sind hier die Weingüter Lenz in Iselisberg (CH), Albet i Noya (Penedès), Hirschhof in Westhofen (DE) oder Timo Dienhart in Maring-Noviand (DE). Auch beim Wein lohnt sich ein Blick in die Fachliteratur oder ins Weinlexikon von Delinat: delinat.com/weinlexikon

Seine Zeit anders nutzen heisst, eine neue Art zu leben entdecken.

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Ein Zehntel

Eigentlich sollte der 22. Mai als Tag der Biodiversität an den armseligen Zustand der Natur erinnern. Diese Botschaft aber wird wie alles andere, was wirklich wichtig wäre, im seit Wochen anhaltenden Lärm um das Virus ungehört verhallen.

«Corona, Corona, Corona! Hände waschen, Abstand halten, Mund- und Nasenschutz! Wir haben begriffen und wir bemühen uns weiter. Corona hat die Gesellschaft gelähmt, die Wirtschaft abstürzen lassen und die Zahl der Arbeitslosen nach oben getrieben. Das alles darf aber doch nicht dazu führen, dass Politik und Journalismus sich nur noch mit diesem einen Thema beschäftigen.» Danke, Franz Alt, für diese klaren Worte!

Was die Pandemie ausgelöst hat, ist erstaunlich. Die Vehemenz, mit der agiert wird und die Bereitschaft, schier unbeschränkte Mittel einzusetzen, hätte noch vor wenigen Monaten niemand für möglich gehalten. Aktuell wird die Summe auf 15 Billionen Dollar geschätzt, die weltweit zur Linderung der Pandemie eingesetzt werden wird. Das sind 15 Millionen Millionen. Eine Summe, die niemand sich vorstellen kann, selbst das Vermögen der Reichsten sieht daneben wie Taschengeld aus.

Auch wenn die Frage unbequem ist, muss sie gestattet sein: «Lohnt» sich das? Und darauf gibt es keine Antwort, so lange man sich an die allgemein gültigen Regeln der Ethik hält. Denn wie viel ist ein Menschenleben wert?

Was aber mit Sicherheit gesagt werden kann: Im Verhältnis zu anderen Risiken wird Corona überbewertet. Die Probleme, die das Sterben der Arten auslösen wird, sind um ein Vielfaches grösser. Dasselbe gilt für den Klimawandel. Die Szenarien, die auf uns warten, wenn wir es nicht schaffen, diesen tödlichen Trend in sehr kurzer Zeit zu stoppen, kann sich niemand richtig vorstellen. Es wird schlimmer sein, es kommt schleichend und wenn wir es realisieren, kann es nicht mehr gestoppt oder gar umgedreht werden. Den Dürren und Seuchen folgen Hungersnöte und Öko-Kriege. Schon heute sterben jährlich Millionen Menschen an schlechter Luft, Hunger und am Kampf um Ressourcen. Das ist erst ein kleiner Vorgeschmack, über den es kaum Statistiken gibt.

Im Unterschied zu Corona aber ist der «Impfstoff» gegen Artensterben und Klimawandel bereits vorhanden. Die Wissenschaft ist sich einig: Wir kennen die Ursachen und wir kennen die Heilmittel. Es fehlt nur am Willen. Die Politik ist mit sich selbst beschäftigt und die Konzerne streben noch immer nach dem schnellen Profit. Braucht es vielleicht eine Revolution, um die alten Akteure abzulösen? Warum kommt nicht mehr Widerstand aus der Gesellschaft?

Positiv an der Corona-Krise ist, dass jetzt sichtbar wird, wozu die Menschheit in der Lage ist. Obwohl die Massnahmen viele Menschen existenziell einschränken, haben wir uns brav daran gehalten, sind bereit, zu verzichten, Geduld zu üben und Unmengen an Steuergeld auszugeben. Warum tun wir das nicht für die Natur und fürs Klima?

Die kurze Antwort: Weil wir Egoisten sind. Corona bedroht uns hier und jetzt. Wer brav ist, kann sich schützen. Wenn wir aufs Fliegen verzichten, um das Klima zu schützen, dann haben wir keinen direkten Vorteil davon.

Würden wir nur einen Zehntel des Aufwands gegen Corona in Artenschutz und Klima investieren, wäre das mehr als alles bisher dagewesene und wahrscheinlich genügend, beide Risiken abwenden zu können. Wir könnten eine Million Menschen 10 Jahre lang mit guten Gehältern beschäftigen, sie endlich die längst bekannten Massnahmen für Klima- und Artenschutz umsetzen lassen und zusätzlich noch viel Geld für Innovationen und Technik ausgeben. 10% der Corona-Gelder würden reichen.

Biodiversität dank Schafen im Weinberg

Ein kleines Beispiel, wie mit klugen Strategien und ganz ohne Mehraufwand dem Artenschwund entgegen gewirkt werden kann, zeigt das aktuelle Bild der Schafherde im Weinberg von Quaderna Via in Navarra. Auch wenn es schwer zu glauben ist, erhöhen die Schafe mit ihrem Grasen im Weinberg die Vitalität des Bodens, die Pflanzenvielfalt, die Fruchtbarkeit, vermindern Erosion und beugen Pilzkrankheiten vor. Den Schafen wiederum tun die Kräuter gut, die in artenreichen Delinat-Weinbergen in grosser Vielfalt wachsen. Solche und tausende anderer Beispiele zeigen, dass Lösungen vorhanden wären, viele sogar zum Nulltarif.